• Martin Calsow
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Sieben Mofa-Mucker-Songs des Großwerdens (Folge 7)

“Albatros”| Karat

Es gibt einen Vogel...

Das Jahrzehnt war vorbei. Irgendwo im Osten war die Mauer gefallen, und bei uns fuhren komische Mainzelmännchen-Autos durch die Straßen. Man winkte noch freundlich. Es waren Menschen aus dem Osten. Damals hieß das noch DDR, und manche hatten es, wie einer meiner Lehrer, immer in Anführungszeichen geschrieben, oder eben von der SBZ (kurz: „Zone“) gesprochen. Es war die Zwischenzeit. Noch keine Einheit, aber viele Demos. Ich war beim Bund. Und wir sahen immer mit großen Augen, was da so passierte. Ich hatte Urlaub bekommen, und vom Spieß die Ansage, nicht zwingend „nach drüben zu fahren“.


Also setzte ich mich zu Maik, einem Schulfreund, der ein Jahr zuvor geflüchtet war, in seinen alten Golf und „machte rüber“. Mit dabei war Dirk, der sich als Musikmissionar bezeichnete, seinen Auftrag mit den Worten „Wir müssen den Ossis mal gute Mucke nahebringen.“ Ich kannte ihn aus der katholischen Jugendgruppe. Er wollte Diakon werden, aber noch war er zu gebrauchen. Schließlich hatte er sich angeboten, das Benzin zu zahlen. Gerne, dafür darf auch der liebe Gott mitkommen.
Maik schwieg und holperte mit uns über Eschwege nach Mühlhausen. Für uns hatte es etwas Expeditionshaftes, für ihn war es ein schwieriges Nachhausekommen. Aber das wussten wir nicht. Wir wollten Spaß, er die ein oder andere Abrechnung.
Unbekanntes Land, gleiche Sprache aber anders. Und die Rolle des Missionars, die war angelegt. Wir hatten ja gewonnen. Das war das Grundgefühl. Sagte keiner, aber wir, die wir nur zwei Staaten kannten, empfanden es so. Klar, die Eltern hatten geweint. Aber wir? War halt neu, also schauen. Aber immer mit der Attitüde des Gewinners. Musste man nicht immer sagen, strömte aber aus jeder Pore.
Maiks Schulfreundin hieß Evi, genauer Evelyn. Ihrer Freundin hatten die Eltern den im Westen völlig unbekannten Namen Ophelia gegeben. Sie hatten uns bei Maiks Eltern in der „Platte“ abgeholt. Die eine blond, die andere dunkelhaarig, beide selbstbewusst. Wir saßen am Tisch der Eltern, wunderten uns über die völlig überhitzte Innentemperatur und floskelten uns durch. Nach einer kurzen Einführung über Wohngewohnheiten („Das ist Auslegeware, bitte die Schuhe ausziehen“), wurden wir mit Fragen überschüttet. „Wie macht ihr das? Wo beantrage ich das? Was passiert, wenn ich krank bin?” Wir, die wir für alles meist zu jung waren, gaben die Erklärer. Es wurde bald still.
Evi schlug vor, zu einer Party zu fahren. Dirks Stunde schien zu kommen.

Er griff nach einer Aldi-Tasche, in der er seine Platten mitgebracht hatte. Keiner durfte schauen, er wollte überraschen. Die Feier stieg in einer der maroden Altbauhäuser in der Mühlhauser Innenstadt statt. Um es mit Freddie Mercury zu sagen: „They know how to boogie“. Es wurde gesoffen, und wir Landeier aus dem Ostwestfälischen waren baff. Die Musik wummerte, es war eine krude Mischung aus Ostrock, den wir nicht kannten, den aber alle anderen mitgrölten, und Westpop. Auf Sofas wurde geknutscht, im Bad gevögelt und im Wohnzimmer wirr gezappelt. Kurz: eine nahezu perfekte Party. Bis der Gastgeber die Musik abstellte und uns laut seinen Gästen vorstellte. Hier, das sei der Dirk, der hat die geilste neueste Musik mitgebracht. Er hielt seinen Arm um Dirks schmale Schultern und riss dessen Arm hoch. „Komm, Dirk. Du legst auf. Was haste dabei?“
Während dieser Einführung hatte ich die Möglichkeit genutzt, einen Blick in die Aldi-Tasche zu werfen. Ein Bild des Schreckens. Dirk hatte die Dreifaltigkeit der musikalischen Tristesse dabei: Angelo Branduardi, Hermann van Veen und Andreas Vollenweider. Diese Platten würden wie eine Audio-Neutronenbombe jegliche Stimmung auflösen. Aufhalten oder flüchten?
„Was ist drin?“ Evi stand hinter mir. Evi roch gut. „Wonach riechst Du?“, fragte ich klar und uncharmant. „Frisson. Also, was bringt er?“
Ich drehte mich um, und sie verstand meinen Gesichtsausdruck.
„Können wir fahren? Das wird jetzt ganz schlimm!“
„Ist das ne Masche?“, fragte sie, während sie Dirk dabei zusah, wie er mir die Tasche mit einem triumphierenden Grinsen wegnahm und zum Plattenspieler ging.

„Ne, heute verliert der Westen, und das wird nicht schön. Bitte, Evi. Irgendwo hin.“
Sie grinste.

È la pulce d'acqua
Che l'ombra ti rubò
E tu ora sei malato

Die belanglose Geschichte eines Wasserflohs, gesungen von einem grässlichen Italiener mit Lockenpracht erklang, als wir die baufällige Holztreppe hinunterrannten. Der kalte Krieg hatte viele schlimme Waffen hervorgebracht: Angelo Branduardi war eine der fürchterlichsten.

Sie fuhr eine Schwalbe. Der Osten hatte viele Seltsamkeiten. Aber, wer wie ich aus dem Westen knallharte Namen für Mopeds und Mofas gewohnt war, der musste lachen. Das war doch ein Witz. Im gelben Licht der Laternen stand ein ebenso gelbes Ding, das vom Design irgendwo in den 50ern stehengeblieben war. Ich wollte mich draufsetzen, fragte nach dem Schlüssel und erlebte eine echte Niederlage. Das Starten dieser Maschine war kein Kinderspiel, und ich musste dabei recht dämlich gewirkt haben. Kickstarter. Nichts für Anfänger. Also fuhr Evi, und ich saß auf dieser großartigen Schwalbe, die mit jeder Minute in mein Herz knatterte, hielt mich an dieser selbstbewussten Frau fest und rumpelte hinaus in die Nacht, in der es noch nach Kohleheizungen und Versprechungen roch.
Die Datsche hatte sie von ihren Eltern geerbt. Sie lag an einem See, ein Käuzchen lebte unterm Dach, kratzte und meckerte, unzufrieden mit dem nächtlichen Besuch. Teile einer Schrankwand, einer "Nadja", wie Evi mir erklärte, stand massiv vor mir. Kerzen wurden entzündet. Kein Futon, keine Diskussion, ob unten liegen eine Form der Unterdrückung sei. Alles einfach. Ich fragte, und sie sprach. Von Träumen. Wo sie hin wollte (unbedingt Paris). Wer sie sein wollte ("ein freier, nachdenklicher Mensch"). Ich schwieg, hörte zu und glühte sie an. Dann beugte sie sich über mich.
Nackt legte Evi später eine Platte auf. Und ja, es mag adoleszente Verblendung sein, aber in diesem Moment gab es kaum etwas Romantischeres als die Musik, die durch die Holzhütte waberte. Es war Karat mit „Albatros“, großartiger Popkitsch auf Weltniveau. Die Lyrik, der Situation angemessen, hochgradig pathetisch und dazu viel Orchester. Mehr brauchte es zur Vereinigung auf privater Ebene nicht.

Am nächsten Morgen fuhren wir heim, fanden Dirk, noch immer komatös betrunken im Hauseingang. Seine Platten hatten sie ihm sorgfältig danebengelegt. Im Westen wären Trümmer übriggeblieben, im Osten waren sie heilig. Maik hatte jemanden im Hof unten verprügelt. Blut und Taschentücher lagen in den Pfützen. "Der hatte ihm den Seitenspiegel des Golfs daraufhin weggetreten", hatte Dirk gemurmelt. Ein Kuss, eine Umarmung, mit der schon klar war, dass es einzigartig war - in jeder Hinsicht.
„Scheiß auf den Seitenspiegel, schau eh nicht zurück in den Dreckstall“, sagte Maik später, als wir am Nachmittag vor dem Golf standen.
Er fuhr uns wieder schweigend mit blutig verkrusteten Handknöcheln heim. An einer Raststätte fragte ich, wer der Typ gewesen sei, den er weggewämst hatte.
„War mal mein Bruder.“ Mehr wollte er nicht sagen und ich nicht fragen.
Schließlich war ich verknallt und Dirk schwer verkatert.
Maik kam nie wieder zurück. Noch vor der Einheit, wenige Monate später, war er ausgewandert. „Ganz weit weg“, hatte er mir auf eine Postkarte geschrieben. Sie zeigte die Insel Fuerteventura. Er hatte eine Stelle als Animateur bekommen.
Dirk schwenkte später auf satanische Musik um und betreute heute in Osnabrück Schwerstbehinderte. Evi hat noch immer die Schwalbe, wie ich in den Sozialen Medien sehen konnte. Ich sah einen Aufkleber, dachte, er sei von der AfD, zoomte heran, war aber nur ein Thüringen-Schild. Noch immer schleiche ich um eine Schwalbe herum, aber fürchte den Start.

Wie auf jeder guten LP gibt es einen Bonustrack in den nächsten Tagen. Vespas mit vielen Spiegeln, lange Mäntel, die Klippen von Englands Küste und ein Eiscafé in Osnabrück...

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