• Martin Calsow
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Sieben Mofa-Mucker-Songs des Großwerdens (Folge 6)

“Never Tear Us Apart” | INXS

Tränen und Kitsch und die MTX

Eine der schönsten Gefühle des Heranwachsens ist Pathos, der unbezähmbare Wunsch, das große Gefühl zu erleben, auch wenn es im Kitsch enden könnte. Für den Teenager der 80er war das immer mit Musik verbunden. Und INXS; eine Pop-Band, die das aufs Grauenerregendste tat. Die Jungs kamen aus Australien und waren schrecklich in ihrer Pose. (Es soll auch Groupies aus Deutschland geben, die das anders sahen). Vielleicht auch deswegen starb ihr Sänger, aufgehängt an einer Hoteltürklinke. Artifizieller geht es kaum.

Ihr Vater war Chefarzt, ihre Mutter Boutiquenbesitzerin und sie meist allein in dem großen Haus am Hang. Julia hatte einen blauen Roller und wohnte mit ihren Eltern und ihrem deutlich weniger smarten Bruder oben am Wald mit Blick auf die Kleinstadt. Dort wohnten die, die im Städtchen als Anwalt, Arzt oder Unternehmer tätig waren. Unten wohnten die anderen. Der Rest eben.

Das Haus, umfasst von einem Rhododendron-Meer, besaß alles, was man in den 80ern als schick empfand. Im Garten plätscherte ein Springbrunnen, die Jalousien hoben sich morgens elektrisch, das Hallenbad verströmte den chlorigen „Alles-ist-machbar, weil wir es haben“-Duft, und manchmal, wenn die Mutter zur Igedo-Modemesse nach Düsseldorf fuhr, kam der Vater mit einer Krankenschwester zum Saunieren heim. Das Schweigen der Kinder wurde mit Scheinen, mal blauen, mal braunen, bezahlt. Mit seinen Vitamin-Präparaten machte der Internist bei der üblichen, reichen aber nicht alt werden wollenden Kundschaft Geld nebenher. So konnte er sich eben Schwestern und Schwarzbauten wie das Hallenbad leisten.

Auch seine Frau hatte Geheimnisse, und die betrafen nicht nur den örtlichen Tennislehrer, sondern auch die in den 70ern beliebten Schlüsselspiele. Man hatte sich einst zu trauter Runde in den Bungalows und Hangbauten zum „gemütlichen Beisein“ getroffen. Die Herren hatten ihre Autoschlüssel in einen Korb geworfen. Und am Ende des Abends hatten sich die Damen einen Schlüssel und den dazugehörigen Mann mitgenommen. So war Julia in die Welt gekommen, auf einem Parkplatz im Teutoburger Wald – im Stehen. In den Achtzigern war damit Schluss. Aids war da.

Es war die Zeit der Tanzstunde, die für Schüler am Nachmittag in der Aula des Gymnasiums angeboten wurde. Mädchen wie Julia aber fuhren zur Tanzschule Hull nach Osnabrück, wo sich auch die anderen Kinder der Rotary-Club-Väter über die Tanzfläche schoben. Man blieb gern unter sich. An diesem Donnerstag aber geschah etwas, was auch ein Internist und Rotarier nicht planen konnte.

Julia hatte mit ihren Freundinnen in Iburg noch voltigiert, ehe sie geduscht und mit ein wenig Lipgloss den Dörenberg, die bergige Grenze zur großen Stadt mit dem O im Namen, hinauf gefahren war. Kurz vor dem Abzweig nach "Borchloh" war nur noch blauer Dunst aus dem Auspuff gequalmt, das Moped langsamer geworden und an der Bushaltestelle zum Stehen gekommen. Kaum hatte sie den Helm abgesetzt, begann es zu regnen. Und hier oben gab es kein Telefon, keiner konnte helfen. Wut war in ihr aufgestiegen. Gerade heute passierte das, wo es darum ging, mit wem sie beim Abschlussball in die Stadthalle stolzieren würde.


Peter Hotfilter kam von der Berufsschule, sah sie unter dem Waschbetondach kauern, drehte weiter unten seinen Bock und kehrte zurück. Er kannte Julia, sie hatten in der Grundschule nebeneinander gesessen. Ihr Vater war Arzt, seiner Trinker. Ihre Mutter hatte ein Mode-Geschäft, seine eine halbe Stelle als Putze in der Schule. Er hatte Julia aus den Augen verloren, als sie ihre Schulwege trennten. Bis er als Lehrling Strippen im Reiterhof legen musste. Da ritt sie, enge weiße Hose, schwarze, glänzende Stiefel und die nussbraunen Haare zu einem Schwanz zusammengebunden, der bei jeder Bewegung kokett wippte. Und Peter stand unten im Keller und zog Kabel. Als er draußen seine Schachtel Marlboro von der Schulter zog, wo sie unter dem T-Shirt klemmte, stand sie vor ihm.
„Hier darfste nicht rauchen, Peter Hotfilter.“
Er sah sie direkt an. Rote Wangen, hohe Wangenknochen, langer Hals. Mit einer Bewegung, die einen Tick zu langsam war, zog sie den Reißverschluss ihrer Reiterjacke runter, und er gab sich redlich Mühe, weiter in die Augen zu sehen. Es gelang ihm nicht, was ihr gefiel.
„Und?“, fragte er, zündete sich mit dem Zippo die Zigarette an und blies den Rauch des ersten Zuges in die Luft.
„Du hast den qualifizierten Realschulabschluss?“, hatte sie gefragt und dann eine Pause gemacht. Sie hatte nicht weiterreden müssen. Er verstand. Sie konnte nicht glauben, dass er Elektriker werden wollte, wo er doch wieder aufs Gymnasium hätte gehen können. Es war diese Arroganz, verpackt in Fürsorge, für die er zwar keine Worte fand, die ihn aber verletzte. Er schwieg. Sie griff nach seiner Zigarette, aber er zog zurück. Dann ließ er seine Kippe zu Boden fallen und drückte sie langsam aus, ehe er sich umdrehte und ohne Gruß wieder zu seinem Arbeitsplatz im Keller ging. Das war ein Jahr her.

Dieser Peter Hotfilter hielt jetzt vor Julia, die mit angezogenen Beinen auf dem Betonsitz hockte und wütend war. Er sah, wie ihre Unterlippe bebte. Zudem fror sie.
„Was ist?“, fragte er und nahm seinen Helm ab. Ein LKW donnerte vorbei und er verstand von ihrer Antwort nur wenig. Etwas von einer Tanzstunde in Osnabrück.
„Der Roller?“
Sie nickte und begann zu plappern.
Er ließ es über sich ergehen, sah sich die Vespa genauer an und wusste sofort, dass hier wenig zu machen war.

I was standing
You were there
Two worlds collided
And they could never tear us apart

„Das Ding ist schrott. Kannste vergessen.“
„ Aber wie komme ich jetzt nach Osnabrück?“
Ihre Haare, sonst gern hochtoupiert, lagen jetzt nass an ihrem Kopf. Sie zitterte. Er zog seine Lederjacke aus, und reichte sie ihr. Sah einen Augenblick so etwas wie Widerwillen in ihrem Gesicht, weil sie seinen Geruch, das Billige der Jacke nicht schätzte, bevor sie hineinschlüpfte und sich schüchtern bedankte. Jetzt saß sie nicht hoch auf dem Pferd. Jetzt war es wie in der Grundschule. Wo sie geklaut hatte, und er sich statt ihrer gemeldet hatte, als der Lehrer fragte, wer es gewesen sei. Jetzt war er hier.

Er sah auf seine Timex-Uhr. In vier Stunden musste er mit seiner Mutter zum Putzen in die Schule fahren.
„Ich fahre dich hin.“
„Echt?“
Sie schien sich ehrlich zu freuen. Er nahm sein Schloss, zog es durch das Rollerrad und setzte sich auf seinen Bock, eine Honda MTX, weißer Tank, blauer Sitz, Seitenspiegel wie Insektenfühler, und startete. Sie setzte sich hinter ihn und hielt sich erst an sein Sweatshirt fest, dann am Nierengurt (ein Geschenk seiner Mutter). Schon einen Ort weiter schlang sie ihre Arme um seine Taille. Er musste wahnsinnig frieren, aber zeigte keinerlei Regung. Sie konnte nicht wissen, dass er jeden ihrer Finger auf seinem Bauch fühlte. Kälte war egal. Er wendete an der Ampel, fuhr die letzten Meter auf dem Bürgersteig und ließ sie vor der Tanzschule an der Bundesstraße absteigen. Julia sah in den Innenraum. Die Stunde schien schon angefangen zu haben. Peter blieb sitzen, als sie ihm die Jacke reichte.

I told you
That we could fly
'Cause we all have wings
But some of us don't know why


„Willste dich drinnen aufwärmen?, ich kann die Tanzlehrerin fragen, ob du zuschauen darfst.“
Er schüttelte den Kopf.
„Wie kommste zurück?“, fragte er stattdessen.
„Ich nehme mir ein Taxi. Geht schon.“
„Soll ich warten?“
Sie sah ihn lächelnd an. Das war sehr fürsorglich. So ohne Grund. Dachte sie. „Ja, wenn du magst. Wäre toll, danach gehen wir bei uns noch etwas trinken. Fänd‘ ich dufte.“

Er stellte den Bock ab, sah ihr zu, wie sie mit ihrem Rucksack in der Tanzschule verschwand und wartete. Es dämmerte, schon zwei Stunden waren vergangen, als er sich einen Ruck gab und in die Tanzschule ging. Eine auffällig geschminkte Dame fing ihn ab.
„Ich suche die Julia, ist die noch am Tanzen?“
„Nein, die ist schon weg. Hinten raus. Der Rolf, ihr Freund, fährt sie nach Hause.“

Sie war schon längst wieder zu Hause und sprang mit Rolf ins heimische Hallenbad, als Peter auf dem Dörenberg, hielt, wo noch immer der rosa Roller stand. Er nahm sein Schloss und wollte schon gegen den Roller treten, als er innehielt. Sie würde es sowieso nicht zahlen müssen. Am Abend putzte er mit seiner Mutter. Eigentlich erzählten sie sich dabei immer vom Tag, während er das grüne Granulat auf den Boden warf und sie danach mit dem Besen wieder zusammenkehrte. Aber heute wollte er allein sein. Also ließ sie es zu, dass er den Kassettenrekorder in die Klassenzimmer mitnahm, wo er die Stühle, die die Schüler vergessen hatten, auf den Tisch zu stellen, hochschwang und dazu laut die Musik aufdrehte.

I was standing
You were there
Two worlds collided

Julia führt heute einen Kinderkleidungsladen am Starnberger See, ist offensive Impfgegnerin und hat ein Verhältnis mit einem Geflüchteten aus Afghanistan. Ihr Mann hat sich verspekuliert und ist privatinsolvent. Das Haus gehört zum Glück ihr, ein Geschenk des Vaters zur Hochzeit. Peter hat nach der Lehre ein Studium an der FH Aachen abgeschlossen. Mit seinen Freunden fuhr er vor drei Jahren mit einer Enduro über die Alpen. Ein italienischer LKW drängte ihn von der Straße. Peter hinterließ eine Frau und zwei Mädchen. Eine heißt Julia.

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