• Martin Calsow
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Sieben Mofa-Mucker-Songs des Großwerdens (Folge 5)

“Life is what you make it” | Talk Talk

Die Achtziger werden gemeinhin mit Musikmüll verbunden. Das ist nur zum Teil richtig. Die Charts waren, das stimmt, ein Hort unglaublicher audiovisueller Tortur. Viel Haarspay und Lipgloss, hüpfende Damen mit toupiertem Haar und das Grauen der Neuen Deutschen Welle. Aber wenn man Nachmittage in Plattenläden verbrachte, weil es Spotify nicht gab und im Radio Carlo von Thiedemann Schlager verbreitete, wenn man also in diesen Vinylläden mit tellergroßen Kopfhörern das Neueste aus England hörte, fiel einem Talk Talk ein. Gepflegte Musik zur jugendlichen Melancholie. Untanzbar. Nur einsetzbar, wenn man unter einem Setzkasten und einem Pirot mit einer aus dem GK-Leistungskurs knutschte. Oder wenn man mit dem Rad und orangen Walkman-Kopfhörern in der Landhölle unterwegs war. Auf dem Weg zum Stumpen Ürken.


Stumpen Ürken lebte in B., einem Ort, in dem seit 1128, dem Jahr seiner ersten urkundlichen Erwähnung, nichts mehr passiert war. Stumpen vom Plattdeutschen für Zigarrenstummel und Ürken für Uhr, weil er eben Uhrmacher war. Eigentlich hieß er natürlich anders. Aber kaum einer der Kunden kannte seinen Vornamen. Der Alte besaß den einzigen Uhrenladen im Ort – damals als Menschen noch Uhren auf Mobiliar stellten oder an die Wand hingen. Wo das Ticken einer Uhr zur Geräuschkulisse in einem Haushalt gehörte. Selbst in den guten Stuben der Bauern standen sie, meist kurz nach dem Krieg getauscht gegen Speck und Brot. Stumpen Ürken war schon damals aus der Zeit gefallen. Er war von kleiner Gestalt, hatte einen mächtigen Buckel, der auf uns Kinder verstörend wirkte. Zumal mein Vater sich den Spaß erlaubt hatte, mir zu erzählen, dass dies kein Buckel unter dem grauen Kittel war, sondern ein Wesen, dass nicht gesehen werden wolle.

Gingen wir mit unserer defekten Standuhr zu seinem Geschäft, das an der Hauptstraße lag, war das immer mit einem Grusel verbunden. Kaum öffnete der Vater die Tür, erklang eine Glocke, und man trat in die Zeit herein. Denn mit einem Mal, kaum war das Läuten der Glocke verklungen, tickte es von allen Seiten, standen Uhren in allen Varianten. Im Vorraum wie auch dort, wo Ürken seine Werkstatt hatte. Es roch nach kaltem Zigarrenrauch, nach Holz und Metall. Nicht angenehm für uns Kinder. Ich hielt mich immer dicht an meinem Vater.

Es dauerte immer, bis der Alte kam, meist stieg er ächzend die Treppe aus dem Keller empor, quietschend, das Holz der Stiege mit einer Metallmanschette niederdrückend. Es war wohl eine Behinderung seit Kindheitsbeinen an. Mein Vater war höflich, ich sah verschämt auf den Buckel, bang wartend, ob er sich bewegte. Aber nichts tat sich. Der Alte sah aus großen Brillengläsern zu mir herunter, fragte mich auf Platt: „Ob Du waul an Beulken häven willst?“ Ich wollte nicht, aber mein Vater sah mich strafend an. Also nahm ich eines, entfernte das Plastik und schob es fast angewidert in den Mund. Kurz darauf war ich froh, den Laden wieder verlassen zu dürfen und an der frischen Luft zu sein.

Stumpen Ürken war aber nicht nur für sein Handwerk bekannt. Einmal in der Woche schlurfte er nachts mit seiner Metallschiene am rechten Bein über den Hof seines Hauses zur Garage, startete schon dort seine Quicky. Er besaß sie seit Jahren, wie mir mein Vater später erklärte.
Im Nachkriegsleben war es ein großer Luxus, nicht mehr seine eigenen Beine zur Fortbewegung zu benutzen. Die ersten großen Verkaufsschlager waren Mofas, die ihren Namen wirklich verdienten, waren es doch Fahrräder mit Tank und Motor, mehr nicht. Aber man musste nicht mehr mühsam treten. An Autos war noch nicht zu denken, so waren für viele diese knatternden kleinen Dinger das große Glück. Manche von ihnen, wie die Quickly („Nicht mehr laufen, Quickly kaufen“), waren auch in meiner Heimat bei den Alten beliebt. Manche von ihnen fuhren sie mit großer Eleganz, eine Filzdecke im Winter über die Beine geworfen. Auch er für so eine NSU Quickly L.

Er packte zwei kleine Uhren in die Satteltaschen und knatterte in die Nacht. Er fuhr die Maschine erst warm, bevor er sie hinauf auf einem Schotterweg hoch über dem Dorf steuerte, immer erstaunlich geschickt. Er überquerte die Brücke, die über die Autobahn führte, gab noch einmal Gas und kam mit letzter Mühe oben auf der Anhöhe an, wo er die Quicky aufbockte, die Uhren aus der Tasche nahm, sie auf einer Bank links und rechts neben sich postierte und sich eine Zigarre ansteckte. Drei, vier Züge nahm er, tupfte sie dann am Plastikbrett des Sitzes aus, sodass die Funken flogen, und legte sie bedächtig auf den Rand. Dann sang er. „Der Mai ist gekommen, die Bäume schlagen aus.“ War die Zigarre zu Ende geraucht, packte er die Uhren ein und fuhr wieder hinunter in den Ort. Dort drehte er auf dem Kirchplatz eine Runde, sodass es jeden Anwohner aus dem Bett werfen lassen musste, parkte die braune Quicky vor seinem Geschäft und schlief bis mittags. Erst am Abend schob er, wieder den grauen Kittel tragend, das Moped in seine Garage.
So machte er das jahrelang. Mein Vater, Polizist, sah ihn oft. Und beim Abendbrot fragte meine ältere Schwester nach dem Grund für das sonderbare Verhalten.
„Krieg“, antwortete mein Vater knapp, wie immer, wenn es um diese Zeit ging.

Ich wurde älter, in der Schule wurden wir mit Krieg und Holocaust konfrontiert. Mal im Fach Geschichte, mal in Deutsch, mal in Religion. In den Achtzigern entkam man dem Thema, den Schwarz-Weißfilmen und den engagierten, jungen Lehrern nicht. Sie hatten jene mit der Handprothese und dem schwarzen Lederhandschuh abgelöst. Jene, die lieber schwiegen, bestenfalls von Kameradschaft sprachen. So gab uns eine junge Referendarin als Projektarbeit auf, in unserem Umfeld, sprich Eltern oder Großeltern nach ihren Erlebnissen aus dem Krieg und der Judenverfolgung zu fragen. Mein Vater, Jahrgang 21, war entrüstet, lief mit mir in die Schule, stauchte die junge Referendarin mit den Worten „Wohl jetzt noch mal einen Persilschein fordern, was? Lern erst mal leben, Du Vogel.“ zusammen. Die Aufgabe blieb, der Vater fiel als Zeitzeuge aus. Es gab welche, denen war das alles schon wurscht. Und es gab jene, die Talk Talk hörten und daran litten.

Now the fun is over
Where do words begin

Irgend etwas ritt mich. Ich wollte aufklären, wissen, offiziell. Aber eigentlich wollte ich mit der dem Pubertierenden eigenen selbstgerechten Art dieser Generation harte Fragen stellen. Wollte sie anklagen. Warum die Leichenberge? Wo wart ihr?

It's the same old song
'I don't believe you'
Promises so golden
Years have proved them wrong

Ich fuhr nach B, wollte Stumpen Ürken fragen. Quasi als Ersatz. Ich stieg die Treppe hinauf, die mir schon als Kind wie Golgatha vorkam, öffnete die Tür, ließ es klingeln und wartete. Es roch nicht mehr nach Zigarre. Aber aus dem Keller kamen Geräusche. Kein Metallklicken. Aber das Geräusch, dass nur das Alter machen kann.
Es war eine ältere Dame, grauer Dutt, das Gesicht voller Falten. Sie fragte nach meinem Wunsch.
Mit dem heiligen Ernst eines jungen Engagierten erzählte ich ihr von meinem Schulprojekt. Lange hörte sie zu, hielt sich dabei an der Vitrine im Geschäftsraum fest, in der alte Armbanduhren verstaubt vor sich hin träumten und tickten.
„Mein Junge. Das ist nichts für dich. Das gehört euch nicht zu erzählen“, wandte sie sich fast verärgert ab.
Ihre Formulierung ließ mich stutzen. „Ist Stumpen … also ist der Herr Meyer Ihr Mann?“, fragte ich hinterher.
Sie blieb stehen, schien erstarrt zu sein, drehte sich langsam zu mir und wollte etwas nicht Nettes sagen, ich sah es ihr an.
„Mieeene“, rief jemand aus dem Nebenzimmer. Noch einmal. Es klang fast vergnügt. Schweigend bedeutete sie mir mit einem Fingerzeig zu warten, was ich auch tat. Und während ich das Holz und die Uhren, den Meisterbrief aus der Zeit des Kaisers betrachtete, zog vom Nebenraum eine kaum vernehmbare Schwade Zigarrenrauch zu mir. Wieder Schlurfen. Die alte Dame winkte mich herein.

Stumpen Ürken lag auf dem Sofa. Er sah mich nicht, weil er so postiert war, dass der Buckel über den Rand der Sitzfläche lag, wohl um Schmerzen beim Liegen zu vermeiden.
„Du bis dien Jong von Harald?“
Ich bejahte es, wollte erklären, warum ich hier sei, fand es in diesem Moment jedoch unpassend und begann zu stottern. Die alte Dame hatte aber wohl schon genug erzählt, suchte in einer Schrankwand nach etwas. Ürken rief ihr vom Sofa zu, sie solle hinter dem Schrank schauen. Die Dame grummelte ärgerlich und schob dann doch den Schrank mit meiner Hilfe ein wenig nach vorn.
„Das Bild.“
„Willst du das wirklich, Bennhard?“, fragte sie.
„Nu man tou“, rief er auf Platt.
So saß ich in einem riesigen Plüschsessel, der über Jahrzehnte in Zigarrenrauch getaucht worden war, sah auf den alten, kleinen Mann und seinen Buckel, der noch immer kein Dämon war, und hörte ihm zu. Noch nie hatte ich ihn Hochdeutsch reden hören. Aber das, was er sagen wollte, konnte er wohl nur in dieser Form mitteilen.
„Mein Junge, mein Bruder und ich, wir sind vom Hitler verschickt worden. In ein Sanatorium. Mein Bruder war nicht klar, ich hatte den Buckel und das krumme Bein. Dem Wolfgang haben sie gleich nicht gemocht. Der kam sofort weg.“ Er macht eine Pause. Die Uhren tickten. Die Dame schwieg.
Er weinte. Sehr leise, kein Schluchzen, eher ein kaum wahrnehmbares Wimmern.
Die Dame sprang ein. „Ich bin seine jüngere Cousine. Sie haben dann meiner Tante einen Brief geschrieben. Der Wolfgang, was der Bruder also vom Bennhard war, also der sei an einer Blinddarmentzündung gestorben. Haben die Nazis geschrieben. Aber das stimmte nicht. Den Blinddarm hatten die doch schon ein Jahr zuvor in Osnabrück im Marienhospital rausgenommen.“
Ürken hatte sich gefasst, versuchte sich umzudrehen, was nicht gelang. Ächzte. Es roch nach Alt.
„Stimmte alles nicht“, fuhr sie fort. „Naja, dann ist meine Mutter zur Kreisleitung. Und zum Bischof. Aber gehört haben sie nichts. Bis ein Pfarrer zu uns kam, und uns sagte, er sei aus Limburg, und er wüsste, wo der Bennhard abgeblieben sei. Die Nazis wollten die Jungs alle wegmachen. In Hadamar. Meine Mutter ist hin, hat das da alles erfahren, und ist darüber verrückt geworden. Die hat sich draußen in der Garage aufgehängt.“
Er musste wieder weinen. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Kannte noch keine Worte des Trostes, war dafür zu jung. Ich sah auf das Bild. Eine Klinik, von oben fotografiert. Verschämt. Verstand nicht den Zusammenhang.
Er röchelte, die alte Dame stand auf und reichte ihm vorsichtig ein Glas Wasser, suchte in einer Vorrichtung nach Pillen und legte sie ihm in die zittrige, faltige Hand.
„Sie gehen besser, dem Bennhard ist müde. Der kann nicht mehr.“
Ich stand auf, die Hände linkisch in die Seite gestemmt.
„Jung“, rief er wieder auf Platt.
„Kannse mitn Mofa wat fahn?“
Ich wusste nicht, was der alte Mann wollte.

Yesterday's faded
Nothing can change it
Life's what you make it

„Ob sie ein Moped brauchen, will er wissen“, erklärte die Dame unwirsch.
„Äh, nein. Leider nicht. Ich bin mit dem Fahrrad da, aber vielen Dank für das Angebot“, erklärte ich in einem Anfall von sinnlosem und unpassenden Großmut. Ich wollte mich umdrehen, als er noch einen Satz sagte.
„Wenn der Rauch kam, und wenn alles roch, dann sind wir im Garten gewesen, und dann sollten wir singen. ‚Der Mai ist gekommen.’ Er summte es noch, als ich den Raum verließ.
„Zwei Uhren, eine für die Mutter, eine für den Bruder“, sagte die Dame zum Abschied. „Aber das ist jetzt vorbei.“

 

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