• Martin Calsow
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Sieben Mofa-Mucker-Songs des Großwerdens (Folge 4)

“Some Kind of Stranger“ | Sisters of Mercy

Schwestern des Mitleids auf der Yamaha 500

Freitag war Zeltfete auf dem Festplatz in Bad Laer. Genauer: Schützenfest. Männer in grünen Jacken und mit roten Gesichtern, die Bier aus Glasstiefeln tranken, mit Gewehren durch den Ort marschierten und von Freitag bis Montagabend soffen. Zickezackezickacke. Das Schützenfest war in den Achtzigern eines der wichtigsten Ereignisse auf dem Land. Der König war meist ein vermögender Handwerker oder Unternehmer aus dem Ort. An seiner Seite stand eine Frau mit viel Tüll und wenig Hals. Im Haar ein Diadem. Hoihoihoi. Für sie der Höhepunkt. Einmal Königin. Mit Hofstaat. Herrenwitze, Greifen an den Busen und trotzdem grinsen. Dröhnendes Lachen und Zuprosten. Korn, Bier. Und laute Musik, erst vom Spielmannzug, später von einer Drei-Mann-Band aus dem Nachbarort, die sich zunächst unter dem Label „Protest“ formiert hatten, um nun als „Los Protestos“ Schlager und Diskofeger zu spielen. Selbst die Caprifischer waren zum Fummeln und Mitgrölen recht. „Bella, bella, bella Marie, häng dich auf, ich häng dich ab morgen früh.“

Ansgar hatte gerade den Holzmeter, eine Vorrichtung mit gefüllten Pils- und Korngläsern, zu einem Biertisch gebracht. Wechselgeld fiel auf den Boden. Ansgar bückte sich, und jemand goss aus einem Glasstiefel Weißbier über ihn. „Du magst doch mit gelbem Wasser angepisst werden“, dröhnte es von oben. Ansgar wich aus, wischte sich den Nacken trocken und ging zur Theke. Seine Schwester stand dort, reichte ihm ein Handtuch. Er drehte sich von den grölenden Männern an den Tischen weg, als er sich das Gesicht abwusch. Ohne dass es jemand sah, legte sie ihre Hand auf seine Hüfte.
„Geh, ich mach das allein hier weiter. Der Alte ist schon voll.“ Sie sahen zu ihrem Vater, der sich am Tisch des Königs breitgemacht hatte, bei jedem Witz des Bauunternehmers eifrig mitlachte und sich langsam zulaufen ließ. Ansgar nickte und verschwand durch den Hintereingang.

Das biertriefende weiße Hemd, die schwarze Hose, die nach Rauch, Bier und Schweiß stank, und auch die Demütigung steckte er in den VW Polo seiner Schwester und zog sich im Schutz der Nacht um. Ansgar trug jetzt einen schwarzen Mantel und schwarze, vorne spitz zulaufende Stiefel. Vor dem Seitenspiegel des Wagens zog er sich Kajal um die Augen. Auf dem Klo würde er sich noch die Haare toupieren. Nichts würde an ihm mehr nach Schützenfest riechen.

Kulturell und geografisch lagen Meilen zwischen Westerwiede und Osnabrück. Der Bauernschaft und der Garnisonstadt der Tommies, mit diesen irren Kerlen, die im Niedersachsenbad mit kuriosen Sprüngen auf sich aufmerksam und in den Kneipen der Altstadt Ärger machten. Ansgar hatte eine Yamaha 500 (genau, die mit dem silbernen Tanz), eine Cross, wie sie nur die wirklichen Bringer fuhren. Eine Stunde später bockte er sie auf und kettete sie an einen der wenigen Bäume vor dem Laden an. Denn der Freitag war auch im Hyde Park, einem Alternativ-Tanzladen im Norden der Stadt, ein Hochamt: Es war Gothic-Night. Ansgar tauchte ein in die Welt der Grufties, zog am Dope, das draußen hinter den Hecken verkauft wurde, nickte mit dem Kopf, ruderte mit den Armen und ging mit weiten Schritten auf die Mitte der Tanzfläche zu. „Some Kind of Stranger“ von den Sisters of Mercy. Tanzen und die Augen schließen.

„And all I know for sure, all I know for real
Is knowing doesn't mean so much
When placed against the feeling, the heat inside
When bodies meet, when fingers touch“

Gothic war für Außenstehende trist und dunkel, für Ansgar das schiere Leben. Lidstrich als Lust. Es war Juli, im Herbst war Schluss, dachte er, während er die Fläche durchmaß, mit den anderen geschmückten, bemalten und aufgerüschten Freunden des Goth. Im Herbst hatte er genug Geld für Berlin zusammen. Aus den Augenwinkeln sah er den Tommie am Rand der Tanzfläche, völlig unpassend in einem engen weißen Shirt, Oberarme wie Baumstämme, raspelkurze Haare und seine Hüften nur wenig hin und herwiegend. Ansgar blieb stehen, sah ihn an, ging auf ihn zu, stieß ihn sachte an. Sah ihm in die Augen. Ein Bier zusammen, ein Lachen. Ansgars Englisch reichte aus. Alles reichte.

„Come here I think you're beautiful
My door is open wide
Some kind of stranger come inside“

Sie gingen raus, wo es nach Dope und Haarspray roch, nicht weit von der Yamaha und verloren für Sekunden die Kontrolle. Keine Träume. Jetzt war der Moment. Es war einfach. Ist das Liebe? Oder nur Lust? Alles egal. Hier war er. Das reichte. Wie der Mann roch, wie er sich anfühlte, schmeckte. Dafür hatte er in der Woche den Spargel geschnitten, den Rotgesichtern nachgeschenkt.

Er hatte die britische Militärpolizei nicht bemerkt, die den Rheinarmee-Soldaten ihrer Majestät mit einem Schlag auf den Kopf von ihm trennte, ihn mit Tritten belegte, Ansgar aber erst in Ruhe ließ. Erst als er ihm helfen wollte und dabei merkte, dass er nicht einmal seinen Namen kannte, stießen sie ihn in die große Pfütze des Parkplatzes. Dann schleiften sie den Mann zu ihrem Landrover, schlugen ihn gegen das Heck, ehe er benommen nach hinten krabbelte.

1986 wurde auch noch in der britischen Armee ein einst arbeitsloser Mann aus Leeds unehrenhaft aus der Armee geworfen. 1986 forderten Politiker der CSU Lager für Schwule. In diesem Jahr ging Ansgar nach Berlin. Als Koch in einem Sterneladen. Über zwanzig Jahre sah ich ihn auf einem Wagen beim CSD. Selten sah ich jemanden glücklicher.

„Come here I think you're beautiful
I think you're beautiful, beautiful“

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